Rassismuskritisch beraten: Einblick in unsere Praxis

Beinahe täglich erleben von uns begleitete Kinder, Jugendliche und Familien of Color1 rassistische Diskriminierungen. Sie werden aufgrund ihrer Hautfarbe, Religion oder anderer Zuschreibungen diskriminiert. Solche Zuschreibungen sind über Generationen hinweg durch gesellschaftliche Strukturen und Praktiken gefestigt worden. Häufig ist der Rassismus subtil und unabsichtlich. Dennoch berichten die Betroffenen, dass er für sie nicht weniger verletzend und ausgrenzend wirkt als ein offener rassistischer Angriff.

Intensive Auseinandersetzung

Seit Ende 2022 beschäftigen wir uns bei Espoir intensiv mit antirassistischem Denken und Handeln. In mehreren Workshops, geleitet von den Expertinnen Rahel El-Maawi und Estefania Cuero, haben wir viel über strukturellen und individuellen Rassismus gelernt und zahlreiche interne Massnahmen umgesetzt, um diesem entgegenzutreten. Im Fokus steht die Stärkung unserer Fachkompetenz in der Beratung und Unterstützung von rassifizierten Menschen. Aber auch der kritische Blick nach innen mit der Frage, wo Espoir als Organisation unbewusst Rassismus stützt, hat uns beschäftigt. «Es reicht nicht, nicht rassistisch zu sein. Wir müssen antirassistisch sein» – diese Aussage der Philosophin Angela Y. Davis ist für uns bei Espoir wegweisend und prägt unser Handeln. 

Ein Leitfaden für Antirassismus unterstützt uns dabei, diese Themen nachhaltig in unsere Arbeit zu integrieren. So haben wir beispielsweise die Bilder auf unserer Website und in Publikationen angepasst, Bücher zu Antirassismus bereitgestellt und unsere Figuren für die Familienarbeit mit Figuren of Color ergänzt. Unsere Stellenausschreibungen ermutigen explizit People of Color und Menschen mit familiärer Migrationsgeschichte zur Bewerbung. Auch unsere Pflegeeltern haben sich im Rahmen einer Weiterbildung mit diesen Themen auseinandergesetzt und gemeinsam Möglichkeiten erarbeitet, um antirassistisch zu erziehen.

Beispiele aus der Praxis

Besonders wichtig ist uns die Beratung der von uns begleiteten Familien. Um zu veranschaulichen, wie sich Alltagsrassismus in unserer Arbeit zeigt, haben unsere Familienberater:innen Beispiele aus ihrer Arbeit anonymisiert zusammengetragen.

Fehlende Repräsentation in Büchern und Spielsachen

Unsere Familienberaterin beobachtete, dass ein Pflegekind of Color kaum Bilderbücher oder Spielsachen besass, in denen Kinder of Color abgebildet waren. Sie sprach daraufhin mit der Pflegefamilie über Repräsentation und Vielfalt und machte sie darauf aufmerksam, wie wichtig es sei, dass Kinder auch in alltäglichen Gegenständen und Medien, mit denen sie sich umgeben, Vorbilder fänden, mit denen sie sich identifizieren könnten. 

Die Herausforderung liegt darin, dass die Mehrheit der gängigen Bilderbücher und Spielsachen oft weisse2 Kinder oder stereotype Darstellungen von Minderheiten zeigen, was den Eindruck erwecken kann, dass nur weisse Kinder «normal» oder «die Norm» sind. Es ist entscheidend, dass auch Kinder of Color die Möglichkeit haben, sich in den Medien und Spielmaterialien wiederzuerkennen, um ihr Selbstwertgefühl und ihre Identität positiv zu stärken. Gleichzeitig ist es ebenso wichtig, dass auch weisse Kinder von klein auf mit Büchern und Spielsachen aufwachsen, die Vielfalt repräsentieren, damit sie von Anfang an sehen, dass alle Menschen gleichwertig sind. 

Die Pflegefamilie reagierte offen und ersetzte viele der vorhandenen Materialien durch solche, die eine grössere Diversität darstellen.

Sensibilisierung durch Fasnachtskostüme

In einem weiteren Beispiel fand ein Pflegekind bei der Suche nach einem Fasnachtskostüm einige Verkleidungen, die kulturelle Stereotype wie «Indianer» oder «Chinesen» abbildeten. Diese Situation bot der Familienberaterin die Möglichkeit, das Thema Rassismus sensibel mit dem Kind und der Pflegefamilie aufzugreifen. Gemeinsam reflektierten sie, welche Botschaften diese Kostüme vermitteln und warum es problematisch ist, solche Stereotype zu reproduzieren.

Die Schwierigkeit bei Kostümen, die auf kulturellen Stereotypen basieren, besteht darin, dass sie oft eine selektive, vereinfachte und häufig karikierte Darstellung von Menschen zeigen, die ihnen nicht gerecht wird. Zum Beispiel reduziert ein «Indianer»-Kostüm die komplexe Geschichte indigener Völker auf Klischees wie Federschmuck und Kriegsbemalung, ohne ihre vielfältigen kulturellen Ausdrucksweisen oder ihre Lebensrealitäten zu berücksichtigen. Solche Darstellungen können bestehende Vorurteile verstärken und dazu führen, dass bestimmte Gruppen pauschal und auf diskriminierende Weise wahrgenommen werden. 

Einigen Menschen fällt es schwer zu verstehen, warum solche Kostüme problematisch sind, da sie die Verkleidung nicht unmittelbar mit Rassismus in Verbindung bringen. Doch es ist wichtig, zu erkennen, dass der soziokulturelle Hintergrund einer Person oder Gemeinschaft nicht als Kostüm dienen sollte. In diesem Beispiel zeigte die Pflegefamilie viel Offenheit und Engagement, und sie besprachen gemeinsam, welche alternativen Verkleidungen geeignet wären. Dieses Beispiel zeigt, wie alltägliche Situationen genutzt werden können, um über Rassismus zu sprechen und eine Sensibilisierung dagegen zu fördern.

Rassismuserfahrungen im Schulalltag …

Unsere Familienberater:innen berichteten von mehreren Rassismusvorfällen in der Schule, die sowohl die betroffenen Kinder als auch deren Familien vor erhebliche Herausforderungen stellten. 

Ein Junge of Color erzählte unserer Familienberaterin von einem Vorfall in der Schule, bei dem ein Mitschüler sein Aussehen im Zusammenhang mit dem Schulthema Steinzeit als «Neandertaler» bezeichnete. Die gesamte Klasse lachte. Der Lehrer reagierte nicht. Der Junge war sichtlich betroffen, und die Familienberaterin erklärte ihm, warum diese Bemerkung sowohl rassistisch als auch inhaltlich unzutreffend war. 

In solchen Momenten müsste die Lehrperson eingreifen und deutlich machen, dass diskriminierende Äusserungen nicht toleriert werden. Da der Lehrer jedoch nicht eingriff, trug er unbeabsichtigt zur Aufrechterhaltung von Rassismus bei. Die Mutter des Jungen riet ihrem Kind zunächst, solche Bemerkungen einfach zu ignorieren. Die Familienberaterin merkte jedoch, dass ihn die Situation stark beschäftigte, und unterstützte ihn dabei, das Thema mit der Lehrperson anzusprechen. Zudem stärkte sie ihn darin, sich gegen solche Bemerkungen zu wehren. Später sprach sie auch mit der Mutter darüber, wie sie ihren Sohn dabei unterstützen kann – sowohl darin, selbstbewusst auf solche Vorfälle zu reagieren, als auch, indem sie sich für ihn bei der Schule einsetzt. 

In einem weiteren Fall berichtete eine Mutter unserer Familienberaterin, dass ihr Sohn in der Schule von einem Mitschüler aufgrund seiner Hautfarbe als «Affe» und «dreckig» bezeichnet wurde. Unsere Familienberaterin besprach mit der Mutter, wie sie ihren Sohn unterstützen und ein Gespräch mit der Lehrerin führen könne. Sie thematisierten auch, wie die Mutter in diesem Gespräch dezidiert und sachlich bleiben könne, da das Thema sie verständlicherweise emotional stark berührte. 

Sie vereinbarten, dass die Lehrerin das Thema «verschieden aussehen» im Unterricht ansprechen soll, um den Kindern mehr Verständnis für Vielfalt zu vermitteln und dem Jungen, der sich verletzend geäussert hatte, die Auswirkungen seiner Äusserungen bewusst zu machen, ohne ihn blosszustellen.

In einem dritten Beispiel berichtete eine Mutter, dass ihr 7-jähriger Sohn wiederholt von einem Mitschüler als «Gaggigsicht» beschimpft wurde. Als er darauf aggressiv reagierte, riet ihm die Lehrperson wegzuhören und meinte, dass er überreagiere. Die Mutter fühlte sich hilflos und von der Schule nicht ernst genommen. Unsere Familienberaterin vermittelte der Mutter den Kontakt zur Zürcher Anlaufstelle Rassismus (ZüRAS). Die Mutter nahm eine Beratung in Anspruch, woraufhin ZüRAS einen Brief an die Schule schrieb. In der Folge organisierte die Schule einen Workshop, um die Schüler:innen und das Lehrpersonal im Umgang mit Rassismus und Diskriminierung zu sensibilisieren.

Diese drei Vorfälle zeigen, dass einige Lehrpersonen unsicher im Umgang mit rassistischen Äusserungen sind. Eine frühzeitige Sensibilisierung der Lehrpersonen sowie die Unterstützung von betroffenen Kindern und Eltern helfen, Diskriminierung zu erkennen und zu überwinden. 

… und beim Arzt

Das Kind einer Mutter of Color nimmt Medikamente gegen ADHS. Die Lehrerin empfahl der Mutter, die Medikation des Kindes zu erhöhen, ohne jedoch konkrete Gründe dafür zu nennen. Daraufhin vereinbarte die Mutter einen Termin beim Arzt, der die Medikation erhöhte, ohne die Mutter über mögliche Nebenwirkungen aufzuklären oder einen Folgetermin zu vereinbaren. 

Unsere Familienberaterin vermutete, dass die Mutter anders behandelt worden wäre, wenn sie weiss und deutschsprachig wäre. Sie unterstützte die Mutter dabei, ein Gespräch mit der Lehrerin zu organisieren, um zu klären, warum die Medikation erhöht werden sollte und welche alternativen Unterstützungsmöglichkeiten es für das Kind geben könnte. Ausserdem klärte sie die Mutter über ihr Recht auf einen Dolmetschdienst und Folgetermine beim Arzt auf, um mehr über mögliche Risiken der Medikation zu erfahren. Sie ermutigte die Mutter, aktiv Gespräche einzufordern, um die bestmöglichen Entscheidungen für ihr Kind zu treffen. 

Die Mutter dachte, es sei normal, einfach den Anweisungen der Lehrerin und des Arztes zu folgen, um ihrem Kind eine gute Schulbildung zu ermöglichen. Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, Eltern über ihre Rechte aufzuklären. Unsere Familienberaterin hat die Mutter ermächtigt, informierte Entscheidungen zum Wohl ihres Kindes zu treffen.

Auf der Suche nach Identität

Ein jugendliches Pflegekind und ihre Familienberaterin gingen zusammen einkaufen. Sie treffen sich einmal wöchentlich. Ziel der Familienberatung ist es, die junge Frau zu stärken und eine verlässliche Bezugsperson für sie zu sein. 

Auf dem Weg zum Tram sagte die Jugendliche plötzlich: «Slowaken sind rassistisch.» Diese Aussage liess die Familienberaterin aufhorchen, da Slowakisch die Muttersprache der Jugendlichen ist. 

«Wie kommst du darauf?», fragte sie. Die Jugendliche erzählte, dass sie in einer slowakischen Facebook-Gruppe ein Bild von sich gepostet habe mit dem Hinweis: «Ich bin Slowakin.» Daraufhin kommentierte jemand: «Mit deiner Hautfarbe kannst du keine Slowakin sein.» 

Die junge Frau weiss nur wenig über ihren Vater, ausser dass sie ihre dunkle Hautfarbe von ihm geerbt hat. Für eine 15-Jährige wird der ohnehin anspruchsvolle Prozess der Adoleszenz noch schwieriger, wenn sie ihre Wurzeln nicht kennt. 

Da sie diese Bemerkung nur nebenbei machte, entschied sich die Familienberaterin, das Thema behutsam anzugehen. Sie hörte aufmerksam zu, nahm ihre Gefühle ernst und bestätigte ihr, dass solche Äusserungen rassistisch seien. Sie bestärkte die Jugendliche in ihren Gefühlen, liess das Thema dann aber ruhen, weil sie den Eindruck hatte, dass es für die junge Frau in diesem Moment stimmig war. Ausserdem gab es im Leben der Jugendlichen aktuell viele andere Themen, über die die Beraterin mit ihr sprechen wollte. 

Da die Familienberaterin demnächst mit ihr an ihrer Biografie arbeiten möchte – ein Thema, das für Pflegekinder sehr wichtig ist –, notierte sie sich, das Thema Zugehörigkeit und Identität in diesem Kontext erneut aufzugreifen. Sie möchte sie ermutigen, sich mit ihrer Herkunft auseinanderzusetzen – in dem Tempo, das für sie passend ist. Gleichzeitig wird sie mit ihr thematisieren, dass ihre Identität nicht von äusseren Zuschreibungen abhängt, sondern dass sie selbst bestimmt, wer sie ist und wo sie sich zugehörig fühlt.

Kleine Bemerkungen, grosse Wirkung?

Die Kinder spielen fröhlich im Schwimmbad miteinander. Mittendrin ist die 8-jährige Melanie. Sie taucht, schwimmt und lacht. 

«Wolli – hierher!», rufen die anderen Mädchen. Die Familienberaterin merkt, dass sie Melanie wegen ihrer krausen Haare so nennen. Melanie scheint sich nicht an der Bemerkung zu stören. Sie lacht mit den anderen, reagiert auf den Ruf und spielt weiter. Die Familienberaterin fragt sich: War das gerade rassistisch? 

Als Begleitperson beobachtet sie die Situation genau. Rassismus zeigt sich nicht nur in offensichtlicher Diskriminierung, sondern oft auch in Alltagskommentaren oder vermeintlich harmlosen Spitznamen. Entscheidend ist, wie sich die betroffene Person fühlt und welche Dynamik dahintersteckt. 

Da Melanie weder verletzt wirkt noch ausgeschlossen wird, spricht sie die Situation in diesem Moment nicht an, später nimmt sie das Thema aber mit ihren Arbeitskolleg:innen auf. Gemeinsam kommen sie zum Schluss, dass es sich lohnt, mit den Kindern über Unterschiede und respektvolle Sprache zu sprechen. Denn auch wenn etwas nicht böse gemeint ist, kann es langfristig dazu führen, dass sich jemand anders oder ausgegrenzt fühlt.

Fazit

Die Auseinandersetzung mit dem Thema Rassismus hat uns gezeigt, wie tief verankert er in unserem Alltag ist und wie wichtig es bleibt, ihn aktiv anzugehen. Die Beispiele aus unserer Arbeit verdeutlichen, dass Sensibilisierung hilft, um rassistische Diskriminierung abzubauen. Durch gezielte Gespräche, Aufklärung und die Stärkung der betroffenen Kinder und Familien schaffen wir es, zu einer respektvollen Gesellschaft beizutragen.

Danielle Silberschmidt Lioris
Verantwortliche Kommunikation und Projektmanagement

1 Espoir verwendet die Selbstbezeichnung von Menschen mit Rassismuserfahrung. 

2 Weiss wird kursiv geschrieben, um die Konstruktion des Begriffs hervorzuheben. Der Begriff weisse Person bezeichnet Menschen ohne Rassismuserfahrung.

Eine Einordnung durch die Antirassismus-Expertin Rahel El-Maawi lesen Sie hier.

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